aus: FREITAG 50/2017 vom 14.12.2017

Staat im Stadtstaat

Hamburg Nicht erst seit G20 werden Polizei und Justiz zu einem Problem für die Demokratie

Staat im Stadtstaat

Dagegen hilft keine Kampfuniorm: Blockflötenspiel kann durchaus eine Form von unangemessener Gewalt sein | Foto: Markus Heine/Nurphoto/dpa

Fünf Monate ist der außerordentliche Hafengeburtstag – pardon, der G20-Gipfel – in Hamburg her. Streng genommen haben sich jedoch zwei Gipfel ereignet: ein medial transportierter, den die meisten Bundesbürger per Internet und Fernsehen verfolgt haben, und ein „lokaler“ Gipfel, den ein Teil der Hamburger sowie Angereiste selbst vor Ort miterlebt haben. Beide Gipfel unterscheiden sich deutlich.

Fake News und Militarisierung

Wer in den Tagen vor den Ausschreitungen vor Ort gewesen war, traute ob dieser Wendung Augen und Ohren nicht. Einerseits eine Vielfalt an nicht gewalttätigen Protesten gegen das, wofür G20 steht, andererseits bei kleinsten Anlässen prügelnde und Reizgas sprühende Polizeieinheiten – all das schien nicht stattgefunden zu haben. Es war wieder das eingetreten, was Medienanalysen schon nach den Gipfelprotesten in London 2009 und Toronto 2010 ergeben hatten: ein Framing des Protestes, das – medial vermittelt – sich fix auf brennende Barrikaden und Autos reduzierte.

Das allein wäre eine unvollständige Analyse. Denn tatsächlich wurde nach dem Gipfel eine Agenda präsentiert, die einen umfassenden Angriff auf den linken Teil des politischen Spektrums zum Ziel hat, in dem die Partei Die Linke auf einmal als „parlamentarischer Arm der Autonomen“ gilt. Dass diese Agenda so unmittelbar nach dem Gipfel auf den Tisch kam, sollte mindestens stutzig machen.

Sicher, die Hamburger SPD versuchte auch ihre Haut zu retten, damit es im Wahlkampf nicht heißen würde: „Die Sozialdemokraten können einfach nicht innere Sicherheit.“ Doch seit Juli werden erste Konturen der Agenda sichtbar.

Da sind, erstens, die Prozesse gegen Demonstranten. Die teils drakonischen Urteile für den Tatbestand „Schwerer Landfriedensbruch“ legen den Verdacht nahe, dass hier eine politische Justiz am Werk ist. Zwar ist bekannt, dass es in der Hamburger Richterschaft immer schon eine Law-and-Order-Fraktion gegeben hat, deren trostloseste Gestalt Ronald Schill war. Doch ist etwa von Hamburger Strafverteidigern zu hören, dass sie von den Urteilen, die bis zu drei Jahren Haft reichen, gelinde gesagt überrascht sind. Ebenso davon, dass die Verteidigerin des Italieners Fabio V. vom Gericht für einen angeblichen Verfahrensfehler im Laufe des Prozesses eine Strafzahlung aufgebrummt bekam.

Da ist, zweitens, der Fokus der Ermittlungen auf die Rote Flora, die man sofort als die wahre Kommandozentrale der Krawalle identifiziert zu haben glaubte. Die Polizei stellte flugs eine 170-köpfige „Sonderkommission Schwarzer Block“ zusammen, deren erste Aufgabe es offenbar war, den Hardlinern in der Politik Argumente für eine Räumung des Hauses zu liefern. Fünf Monate später hat die SoKo keine Belege für die These von der Kommandozentrale vorzuweisen. Stattdessen ordnete sie vergangene Woche Razzien in der linken Szene in mehreren Städten an. Es ist allerdings anzunehmen, dass es hierbei nicht nur um plakativen Aktionismus für die Mainstream-Gesellschaft ging, die nach einer Verurteilung aller „G20-Verbrecher“ (Bild) giert. Tatsächlich dürfte es, wie auch schon beim Hamburger Gefahrengebiet 2014, vor allem darum gehen, die Datenbanken der Sicherheitsbehörden über die linke Szene mit Informationen aus beschlagnahmten Computern auszubauen.

Die Hamburger Politik verweigert sich, drittens, einer konsequenten Untersuchung der Gipfel-Ereignisse. Weder der rot-grüne Senat noch der konservative Teil der Opposition haben ein Interesse daran. Statt eines parlamentarischen Untersuchungsausschusses wurde ein zahnloser Sonderausschuss eingerichtet, der die brisanten Fragen nicht stellt und Bürgermeister Scholz Gelegenheit gab, gebetsmühlenartig seine Sicht auf den Gipfel zu wiederholen. Kennt man jedoch die Geschichte der Hamburger Polizei, wäre spätestens G20 der Anlass gewesen, diesen Staat im Stadtstaat gründlich unter die Lupe zu nehmen. Der Hamburger Kessel von 1986, der Polizeiskandal von 1994, die wiederholten, von Hamburger Gerichten festgestellten Rechtsbrüche des G20-Einsatzleiters Hartmut Dudde bei Demonstrationen seit den 2000er Jahren, der „Angriff“ auf die Davidwache Ende 2013, der das Gefahrengebiet 2014 begründete, sich jedoch als Fake News herausstellte – all das würde genügen, die „Hamburger Linie“ als ernstes Problem für einen demokratischen Rechtsstaat zu begreifen. Allein, es passiert nicht.

Dass es nicht passiert, hat auch mit der bürgerlichen Mitte zu tun, die den Angriff auf das linke Spektrum unterstützt, der bislang als genuin rechtes Anliegen gelten konnte. Auch diese Verschiebung wurde unmittelbar nach dem Gipfel sichtbar. Am Tag danach fiel ein „Putzmob“ ins Schanzenviertel ein, der nicht nur gut gemeint Trümmer beseitigte, sondern auch gleich Graffiti und Aufkleber von Häuserwänden kratzte, gerne auch solche mit politischen, also linken Botschaften. Unter den Putzmob trauten sich gar einige Neonazis, die in der linken Hochburg Sternschanze – ungeniert und fotografisch dokumentiert – mitschrubbten. Linke Buchverlage, aber auch Gewerbetreibende, deren Läden nicht geplündert wurden, erhielten derweil krasse Gewaltandrohungen, die selbst langjährige Aktivisten überraschten.

Die derzeitige Ruhe kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass sich seit G20 etwas zusammenbraut. Zwei Details zur Polizeiarbeit sollten besonders alarmieren: Der Einsatz von SEKs bei Demonstrationen ist nun gesetzt, wie sich bereits im September bei einer Antifa-Demonstration im sächsischen Wurzen zeigte. Und in Nordrhein-Westfalen müssen seit neuestem Polizeibeamte auch das Schießen mit Maschinengewehren trainieren, die bislang nicht zur Standardausrüstung der Polizei gehörten. Das passt wiederum zum Bau des Truppenübungsplatzes Schnöggersburg in Sachsen-Anhalt seit 2012, dessen erste fertiggestellte Teile im Oktober der Bundeswehr übergeben wurden. Schnöggersburg ist das Modell einer mitteleuropäischen Großstadt samt U-Bahn-Eingängen und Shopping-Meile; als Vorbereitung auf Einsätze in Mali taugt das eher nicht. So markiert G20 einen weiteren Schritt auch in der Militarisierung deutscher Städte.

Parallelen zum NSU-Komplex

Dass der Gipfel vor allem durch eine sich selbst überschätzende Armada von 31.000 Beamten aufs falsche Gleis geriet, dass erst eine Meuterei bayerischer Einheiten am Eingang der Sternschanze die Heftigkeit der Ausschreitungen ermöglichte, dass für den dortigen „Hinterhalt“ der Demonstranten keine Beweise gefunden werden konnten, wie die Hamburger Polizei im Oktober ebenfalls einräumte – geht unter. Die Konsequenz lautet stattdessen, dass die Polizei aufrüsten muss, um künftige Proteste im Keim ersticken zu können.

Vergleicht man die Agenda gegen links und die Militarisierung der Polizei mit der Aufarbeitung des NSU-Komplexes, drängt sich endgültig der Verdacht auf, dass sich auch in der Bundesrepublik ein „tiefer Staat“ gebildet hat. Es ist von einer traurigen Ironie, dass wieder einmal die Sozialdemokratie den Gehilfen spielt. Sie hat schon einmal teuer dafür bezahlt. Mindestens sie sollte ihre Lektion schnell lernen.

Derweil freuen sich die Polizeibehörden in Sachsen über ihren vom Rüstungskonzern Rheinmetall sowie MAN ausgelieferten neuen Panzerwagen „Survivor R„, dessen Sitze bestickt sind mit den Worten „Spezialeinsatzkommando Sachsen“ in Frakturschrift-ähnlicher Aufmachung. Und in Hamburg fahndet die Polizei nun öffentlich mit Einzelfotos nach 104 – mutmaßlichen – Straftätern während des G-20-Gipfels.